Erinnerung
Es ist erstaunlich, an was sich Kinder alles erinnern können. Kleinigkeiten, die
einer erwachsenen Person möglicherweise gar nicht aufgefallen sind.
Das liegt unter anderem daran, dass ihre Wahrnehmung ungetrübt und frisch
ist, denn vieles erleben sie zum allerersten Mal. Es ist neu und sehr
eindrücklich, und die Empfindungen, die mit diesem Erleben einhergehen, sind
stark. Das gilt besonders für freudige Erlebnisse. Manchmal können sich
Erwachsene solche Eindrücke wieder hervorholen und ihnen nachschmecken.
Das lässt sich zum Beispiel leicht nachprüfen, wenn man sich etwas nach
Jahrzehnten wieder vor Augen holt: ein besonderes Spielzeug, das Cover eines
Comicheftes oder eine alte Serienfolge. Mit heutigen Augen wirkt manches
davon fad oder gar lächerlich – aber was hatte es ursprünglich für eine Wirkung
auf mich! Und zuweilen blitzt die dann doch wieder auf und ein intensives
Gefühl stellt sich kurz ein.
In den Erinnerungen von Kindern geht es nicht um den Umfang eines
Ereignisses, sondern die Bedeutung liegt in den Details. Sie sind umso
wichtiger, wenn ein Erlebnis Vergnügen macht. Es kann ganz klein sein, ein
Spaß, den die Mutter oder der Vater gutgelaunt hervorzaubert. So macht zum
Beispiel ein Vater auf dem Spielplatz irgendwelche Faxen beim Anschieben der
Schaukel – vielleicht, um für sich selber ein bisschen die Eintönigkeit
aufzulockern. Das Kind beginnt zu Lachen, die Faxen werden wiederholt – und
schon ist ein kleines Spiel entstanden wie ein winziges Ritual. Beim nächsten
Mal auf der Schaukel kommt dann die Aufforderung, das zu wiederholen. Es
gibt Tausende von solchen kleinen Anlässen zur gemeinsamen Freude. Es ist ja
nicht nur die lustige Situation, sondern es ist eine vertraute und vergnügliche
Geschichte, die das Kind und den Vater von nun an verbinden. Alles passiert in
einer Beziehung.
Erinnerungen prägen unser Leben. Sie sind nicht immer zu hundert Prozent
faktensicher. Vieles erzählen wir uns (und im Austausch mit anderen) bis ins
hohe Alter immer wieder neu, manchmal, je nach Lebensphase, verschieben
sich unbemerkt die Akzente. So entsteht tatsächlich unsere ganz eigene
Lebens-Geschichte. Erinnerungen sind also sehr wichtig.
Es lässt sich kaum leugnen, dass unangenehme Erinnerungen anders
verarbeitet werden als freudvolle. Vielleicht, weil sie eine andere Funktion
haben: Sie gerinnen zu undeutlichen Gefühlen und Beklemmungen, zu
Warnungen, die uns davor schützen sollen, wieder in Not zu geraten. Oft fällt
uns späterhin gar nicht mehr ein, wo sie herkommen, ihre Wirkung bleibt aber
erhalten. Sie dient ja eigentlich der Vorsicht. Deswegen ist es auch schwieriger,
solche Nachwirkungen zu relativieren. Viele Männer haben schwierige
Erfahrungen mit dem eigenen Vater im Gepäck, die nicht leicht aufzulösen sind.
Wenn sie selber Väter sind, mischen sich die dadurch entstandenen Vorbehalte
auch ins Verhältnis zu den eigenen Kindern ein. Das ist nicht zu vermeiden, und
es ist gut, sich auch daran zu erinnern.
Gute Erlebnisse, das spürt man schon als Kind, sollen wiederholt, erneuert,
verstetigt werden. „Nochmal!“ wir dann gerufen. Das ist eine vorwärts
gerichtete Umformulierung von „weißt du noch?“. Nein, das Gute soll auf
keinen Fall vergessen werden! Gute Erfahrungen prägen sich anders ein. Sie
öffnen etwas. Wenn ein Kind zuverlässig erlebt, wie sein Vater sich ihm immer
neu zuwendet, wächst Vertrauen – nicht nur zum Papa, sondern auch ins Leben.
Früher meinte man, es wären vor allem die Väter, die diesen Weg „hinaus“ ins
Leben begleiten. Das war ein fehlerhafter Rückschluss, weil man dachte, der
Platz von Männern sei weniger in der Familie als im Berufsleben etc. Seither hat
sich zum Glück das Verständnis verändert. Allerdings stimmt es weiterhin, dass
Väter oft eine andere Art von Quatschmachen und Späßetreiben mit den
Kindern bevorzugen als jeweils die Mütter. Zwei Menschen teilen sich die
Erfahrungsräume, die sie ihren Kindern bieten, fast automatisch auf. So
erweitern und ergänzen sich die Erlebnismöglichkeiten der Kinder. Umso
wichtiger ist es, das Engagement der Väter zu bestärken.
„Papa, weißt du noch?“ – ein solcher Spruch erinnert an die kleinen und
zugleich bedeutsamen Erlebnisse der Kinder, aber auch der Väter mit ihren
Kindern. Gerade, weil sie so unscheinbar daherkommen, macht es Sinn, sie
einmal bewusst wahrzunehmen. Sie werden dann erinnert im Wortsinn: er-
innert. So bekommen sie im eigenen Inneren ihren Platz. Über den Moment
hinaus, an dem Väter und Kinder etwas Schönes miteinander teilen, lassen sie
sich dort dann wiederfinden. „Papa, weißt du noch?“ – „Oh ja, mein Kind, ich
weiß!“